Das erste Mal auf alles scheißen

2008 war ein prägendes Jahr. Bereits im Sommer 2007 hatte ich mein erstes Theaterengagement, danach folgte direkt das zweite. Bis Weihnachten war ich nur sporadisch in Berlin. Meine damalige Partnerin war selbst noch in Ausbildung zu dem Zeitpunkt. Wir waren seit knapp fünf Jahren ein Paar. Wir kannten uns seit unseren Teenager-Jahren
Wir lebten in getrennten Wohnungen. Jetzt. Mittlerweile. Es gab ein kleines Auf- und Ab. War es für mich ein großer Spaß, war es für sie die Umkehrung aller Dinge. Ich herrschte über mein Leben, die Beziehung, über meine Zukunft. Ich hatte sie rausgeschmissen. 2006. Nicht direkt. Naja eigentlich doch. Seit Wochen pladderte die Liebe aus mir. In der Rückschau probte ich tausend Dinge. Nicht nur Theaterstücke, Monologe – auch mich selbst. Ich wusste zum ersten Mal in meinem Leben, wer ich sein wollte. Der Stress. Wenig Schlaf. Das gehörte alles dazu. Sie zog sich zurück. Vielleicht war ich einfach zu viel. Vielleicht war sie einfach zu überfordert von sich selbst. Wir waren nicht mehr beieinander.
Musik gab es viel in der Zeit: The Strokes, Placebo, Olli Schulz, Foo Fighters – ihr wisst Bescheid. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Auf vereisten Radwegen im Winter, oberkörperfrei im Sommer. Wenn mir der Schweiß in dünnen Rinnsalen herunterrann. Sich spüren. Um jeden Preis. Heftig atmen. Nicht mehr können. Absteigen und die Jacke ausziehen. Absteigen und das Handtuch hervorholen. Proben, Lernen, sich veräußern. Es sollte losgehen. Ich sollte los gehen.
Ich bedauerte, dass sie nicht mehr mit mir schlief. Ich wollte doch mit allen schlafen. Ich ließ die Türen von Schlaf- und Badezimmertür offen, wenn ich es mir mitten in der Nacht selbst machte während sie schlief. Vielleicht hörte sie ja zu. Ich stellte mir vor, was beim Duschen von meinem Körper im Abfluss übrig bleiben würde, bestünde mein Schweiß aus kleinen Kristallen. Ich fragte mich, ob ich es überhaupt spüren würde, stieße ich mir einen angespitzten Bleistift in den Unterarm. Ich flirrte und pulsierte gleichzeitig. Und ich war voller Liebe. Nichts konnte mich aufhalten. Und ich schrieb. Wie ein wilder schrieb ich eine Liebesgeschichte von zwei Spielenden. Auf der Bühne und daneben. Ich fing an, sie unter Druck zu setzen. Indem ich schwieg. Immer weiter machen immer weiter. Es ist nie genug. Egal, wie sehr du dich anstrengst. Ich wurde manipulativ. Aber eigentlich wollte ich gar nichts. Als sie eines Tages von der Arbeit kam hatte sie eine Flasche Weißwein dabei und befahl mich an den Küchentisch. Ich hatte noch nie eine Frau so schnell eine Flasche Weißwein trinken sehen. Sie fragte warum ich sie so sehr quälte. Ich habe mich verliebt war die Antwort. In eine Kommilitonin.
Die Geschichte die ich damals nachts schrieb – sie ist das Fürchterlichste, was ich jemals gelesen habe. Schlimm bis zur Fremdscham. Sie ist so kitschig wie das Theaterstück das wir damals probten. Boulevard. Der übelsten Sorte. Mehr nicht.
Heimlich übernachtete ich damals bei ihr. Ein kleiner Geheimbund. Tagsüber taten wir so als wäre nichts. Nachts lagen wir nebeneinander. Manchmal. Morgens brachen wir jeweils mit einer halben Stunde Unterschied voneinander auf. Damit wir nicht gleichzeitig in der Schule erschien. Erbärmlich. Aber ich war aufgeplustert wie ein kleiner Gockel. Das war schön damals. Aber ich wurde benutzt und verleugnet. Heruntergebrochen.
Die Flasche war leer. Wer es denn sei wurde aus mir herausgewrungen. Dann: überstürzter Aufbruch. Flucht. Ich habe sie zwei Wochen lang nicht mehr gesehen. Dann kündigten wir die Wohnung. Es war ein kurzes Jahr, aber auch ein schönes.
Heute weiß ich, dass das meine erste manische Episode war. Die erste die als solche benennen würde. Ich dachte das gehört zu mir. Ich dachte Ich wäre das. Und das war ich auch. Das gehört zu. Die Grenzen verschwimmen hier einfach sehr stark. Ich war so voller Kraft, so voller Möglichkeiten. Das soll nicht Ich gewesen sein? Es war, als hätte ich all das Potenzial das in mir steckt in der Faust kneten können. Ich brauchte es nur zu tun. Alles spielt nach meinen Regeln.
Bin ich bipolar oder habe ich eine bipolare Erkrankung? Bin ich krank, oder ist das einfach ich? Und wenn ich sie habe – wo endet dann das Ich und wo beginnt das Symptom? Gehört das, was man fühlt zu einem oder nicht? Bin ich funktional oder kaputt? Bin ich das Erlebnis oder die Deutung? Haben das Beste und das Schlechteste in mir den selben Ursprung?
Es heißt man sollte während einer manischen Episode keine lebensverändernden Entscheidungen treffen. Die Frau mit der Weißweinflasche, die so gern gepunktet trug, und ich, wir rauften uns nochmal zusammen. Wir hatten noch zwei wundervolle Jahre bevor die Beziehung endgültig zerbrach.
Aber nicht wegen meiner Bipolarität.
Was dann kam hatte mit Liebe nichts mehr zu tun.