Die frau im roten mantel

Es gibt Momente, in denen Wahrnehmung nicht mehr von innen oder außen kommt. Sie geschieht einfach – durch mich hindurch. Seit der Diagnose sehe ich die Welt anders. Oder sie sieht mich anders.

Dies ist der Versuch, davon zu erzählen.


Die Spitzen der Haare meiner Unterarme verfingen sich in den Maschen des Unterärmels meiner Jacke. Ein subkutanes Drücken und Ziehen setzte ein. Ein Druck, der ganz unbeständig nirgendwo hin wollte. Ein Aufbegehren. Ein sich darauf einstellen. Kein Gedanke, kein Gefühl. Einfach nur die Haare meiner Unterarme und die Baumwolle des Ärmels. Ein Gefühl wie Kälte auf der Haut.

Dann löste sich der Stoff.

Und die Welt tat so, als hätte sie nicht kurz angehalten. Wie ein Atemzug, der einen halben Millimeter anders sitzt. Und für einen Moment weiß ich nicht, wer zuerst hinsieht: meine Augen oder das, was hinter ihnen sitzt.

Und da ist wieder das Gefühl, als würde jemand mit mir hinsehen. Noch bevor ich die Augen öffne, merke ich es. Nicht das Licht. Nicht den Morgen. Sondern etwas wie eine Aufmerksamkeit hinter meinen Lidern, als wäre mein Blick schon wach und ich nur der Körper, der nachkommt.

Und irgendwo am Rand des Sehens steht ein Streifen von Rot. Kein Körper, kein Gesicht. Nur eine Farbe, die mich schon bemerkt hat, bevor ich ganz da bin.


Nicht wirklich da – eher ein Ziehen, ein leichtes Brennen im Nacken, bevor mein Blick einen Ort findet, an dem er landen kann.

Nur ein Schattenton im Augenwinkel, die Ahnung von Rot, wie ein Puls, der kurz falsch schlägt und dann tut, als wäre nichts gewesen.


Die Ampel rot. Mein Körper still. Ein Zittern im Knie, das ich nicht kannte.

Ich wollte weitergehen – der Körper tat, was er immer tut, ein Fuß vor den anderen – aber irgendwas in mir blieb stehen. Nicht dramatisch. Keine Panik. Einfach nur: eine Sekunde zu lang an dieser Kreuzung. Als hätte sich die Zeit minimal verschoben und mich einen Atemzug hinter sich zurückgelassen.

Ich blinzelte.

Und in diesem Blinzeln – diesem Augenblick, der eigentlich nichts ist, eine Zehntelsekunde Dunkelheit – veränderte sich etwas. Als ich die Augen wieder öffnete, stand sie da.

Die Frau im roten Mantel.

Auf der anderen Straßenseite. Nicht direkt gegenüber, eher leicht versetzt, so dass ich sie nur halb im Blick hatte. Den Mantel wie eine zweite Haut um sich gelegt, halbtransparent, als hätte jemand sie aus Glas geblasen und vergessen, die Ränder zu schließen.

Sie bewegte sich nicht. Sah mich nicht an – oder doch? Ihr Gesicht war da und gleichzeitig nicht da, eine Unschärfe, die sich weigerte, Form anzunehmen.

Keine Geste. Kein Blick.

Nur ein stilles Ziehen im Brustbein, als wäre ich ein Faden, geteilt in zwei Richtungen: die, die weitergeht, und die, die schon stehen geblieben ist.

Die Ampel wurde grün. Menschen gingen um mich herum. Ich stand da, eine Sekunde, zwei, drei – und als ich wieder hinsah, war sie weg.

Aber das Zittern im Knie blieb.


Im Supermarkt. Auf dem Bahnsteig. Im Spiegel der Büroküche. Beim Einschlafen.


Manchmal glaube ich, sie steht einfach schon da, wenn ich die Augen öffne. Nicht nah, nicht fern – gerade so weit, dass ich sie nicht wirklich sehen kann. Ein Rot, das durch jede Bewegung hindurchscheint, wie ein Nachbild, das sich weigert zu vergehen. Sie sagt nichts. Aber seit sie da ist, bin ich nie mehr allein in meinem Blick. Alles, was ich ansehe, sieht sie mit. Und manchmal weiß ich nicht, ob ich etwas betrachte, oder ob sie mir zeigt, wie ich es sehen soll.

Es ist nicht Furcht. Eher eine Verschiebung. Ein anderes Licht. Ein Winkel, aus dem die Welt plötzlich kippt, und in dem alles, was vorher selbstverständlich war, sich neu zusammensetzt. Ich kann mich noch erinnern, wie es war, ohne sie zu sehen – aber ich kann nicht mehr dorthin zurück.


Heute Morgen wollte ich Kaffee trinken. Die Tasse stand vor mir, zu heiß noch, Dampf stieg auf. Ich griff danach – und meine Hand gehorchte nicht. Nicht so, dass sie sich nicht bewegte. Sie bewegte sich zu viel. Ein feines Beben in den Fingern, kaum sichtbar, aber fühlbar. Als wäre zwischen Wollen und Tun eine Millisekunde Verzögerung eingebaut, ein Stottern im Signal.

Ich legte die Hand flach auf den Tisch. Das Zittern blieb. Kein Krampf, keine Erschöpfung. Einfach nur dieses leise Vibrieren, als hätte jemand die Frequenz meines Körpers minimal verstellt. Ich versuchte, die Finger zu spreizen, sie ruhig zu halten – aber je mehr ich versuchte, desto fremder wurde die Hand. Als gehörte sie mir nur noch zur Hälfte.

Dann sah ich sie. Im Schatten der Küchenzeile. Kein volles Bild, nur das Rot, das sich an die Kante der Spüle lehnte. Sie sagte nichts. Sie musste nichts sagen. Das Zittern war ihre Sprache. Der Preis dafür, dass ich funktioniere. Der Beweis, dass sie bleibt.

Ich nahm die Tasse mit beiden Händen. Das Beben übertrug sich auf den Kaffee, kleine Wellen kreisten an der Oberfläche. Und ich trank. Langsam, konzentriert, als müsste ich mich an diese neuen Hände erst gewöhnen.

Manchmal, wenn alles zu laut wird, ist sie das einzige Ruhige. Als hätte sie einen Raum in mir geöffnet, den ich vorher nicht kannte. Einen Ort, an dem ich innehalten kann, ohne zu fallen. Ich will das nicht. Ich habe mich nicht dafür entschieden. Aber es ist da.


Seit sie da ist, trägt jeder Tag einen winzigen Riss. Nichts, das man sofort sieht – eher ein feiner Versatz zwischen Welt und Wahrnehmung. Ein kaum hörbares Knirschen, wenn sich beides übereinanderlegt. Ich bewege mich wie immer, gehe einkaufen, spreche, lache – aber etwas in mir sieht dabei zu. Nicht misstrauisch, eher aufmerksam. Wie eine zweite Haut, die nicht mehr ganz zu mir gehört.

Manchmal, wenn ich mich in einer Fensterscheibe spiegle, glaube ich, sie steht hinter mir. Nicht bedrohlich, eher geduldig. Ihr Mantel leuchtet nicht, er atmet. Ein Rot, das sich an alles heftet, was ich bin. Und in diesem Atem weiß ich: Es gibt kein Danach, kein geheiltes Zurück. Nur dieses Leben mit ihr. Mit dem Wissen, dass ich nie wieder allein sehen werde.

Seit sie da ist, ordnet sich mein Tag anders. Nicht in Stunden, sondern in Helligkeiten. Ich weiß nie genau, wann ein Morgen anfängt oder aufhört. Alles ist etwas durchlässiger geworden, als hätte jemand die Konturen leicht verschoben. Ich trinke Kaffee, ich schreibe, ich antworte auf Nachrichten – und doch sitzt sie irgendwo zwischen diesen Bewegungen, wie ein kaum hörbares Ticken unter dem Rauschen.

Manchmal vergesse ich sie. Dann fließt alles, leicht, selbstverständlich. Aber irgendwann merke ich, dass diese Leichtigkeit genau der Moment ist, in dem sie mich ansieht. Nicht böse, nicht warnend. Eher prüfend. Als wüsste sie, dass ich nur vergesse, weil ich gelernt habe, mich gut zu tarnen.


Im Wartezimmer: Schuhe binden, Blut zu laut in den Ohren.

Als ich hochsah, saß sie da – als wäre sie immer schon hier gewesen und ich nur endlich still genug, um sie zu bemerken.

Ihr Gesicht eine Leerstelle, kein Spiegel, kein Echo. Nur die Öffnung, durch die ich auf mich selbst blicke: die Hände, die zittern, der Körper, der spricht, leiser, seit ich höre.


Sie kommt nie. Und doch ist sie immer das Davor.

Ein Blick, der sich formt, bevor ich hinschaue.

Etwas, das ich nicht mehr wegsehen kann. Etwas, das sieht.

Und ich – gesehen

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert